Versorgungssteuerung neu gedacht: Was ein Primärversorgungssystem für die Physiotherapie und den Direktzugang bedeuten würde

Die Diskussion um ein Primärversorgungssystem ist spätestens seit Vorlage des Koalitionsvertrags wieder verstärkt im Gange, in dem die Bundesregierung ein verbindliches Primärarztsystem als Möglichkeit für eine bessere, zielgerichtete Versorgung von Patienten skizziert. Doch die Idee einer verbesserten Versorgungssteuerung ist nicht neu; bereits im Rahmen der Diskussion um Gesundheitsreformen unter Ex-Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer in den 1990er-Jahren wurde ein Primärversorgungssystem diskutiert. In Anbetracht der stetig steigenden Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitssystem steht, hat die aktuelle Bundesregierung das Primärversorgungssystem wieder aufs Tableau gebracht. Auch das Bündnis Gesundheit, in dem sich der IFK gemeinsam mit über 40 Organisationen aus dem Gesundheitswesen engagiert, hat sich in seinem Positionspapier im vergangenen Herbst mit dem Thema Versorgungssteuerung befasst und identifiziert, dass das deutsche Gesundheitswesen von einem kaum gesteuerten Zugang und einer unstrukturierten Inanspruchnahme von Leistungen gekennzeichnet ist, die zum Nachteil der Patienten sind und es immer schwieriger machen, eine abgestimmte und sichere Versorgung zu gewährleisten. Ziel der Gesundheitsversorgung muss es sein, die vorhandenen Ressourcen so effektiv, aufeinander abgestimmt und effizient einzusetzen, dass sie dem tatsächlichen Behandlungsbedarf gerecht werden. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Primärversorgungssystem eine mögliche Lösung. IFK-Vorstandsvorsitzende Ute Repschläger erklärt, welche Auswirkungen das Vorhaben auf die Physiotherapie haben könnte.

Das Thema Primärsystem – in unterschiedlichen Ausprägungen wie dem Primärversorgungssystem oder dem Primärarztsystem – wird aktuell in der Gesundheitsbranche viel diskutiert. Was versteht man darunter? 

Repschläger: Das Konzept Primärversorgungssystem ist kein ganz neuer Gedanke. Im Kern bedeutet es, dass Patienten keinen uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem mehr haben, sondern zuerst immer eine definierte primärversorgende Stelle aufsuchen, die die Koordination der weiteren Behandlung übernimmt. Hierbei gibt es verschiedene Modellvarianten. Ist beispielsweise der Hausarzt die primärversorgende Stelle, nennt man es Primärarztsystem. In anderen Szenarien können dies auch Teams aus Ärzten oder Ärzten mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen sein, zum Beispiel sogenannte Primärversorgungseinheiten (PVE).

Wir sehen momentan, dass im deutschen Gesundheitssystem eine große Über- und Fehlversorgung stattfindet. Für Patienten ist die komplexe Versorgungslandschaft kaum zu durchschauen, ineffiziente und ineffektive Arztbesuche sind die Folge. Die ambulante medizinische Versorgung steht zudem seit längerem vor großen Herausforderungen, die unter anderem durch die demografischen Entwicklungen und den Fachkräftemangel entstanden sind. Mit einem Primärversorgungssystem soll dem entgegengewirkt werden. Denn gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist es wichtig und richtig, die Kapazitäten unseres Gesundheitssystems sinnvoll einzusetzen, um die bestmögliche Versorgung sicherzustellen. Beim Primärsystem übernimmt die primär versorgende Stelle den Erstkontakt zum Patienten und klärt die Behandlungsbedarfe. Anschließend koordiniert sie die erforderliche arzt- und sektorenübergreifende Behandlung des Patienten.

Durch dieses Vorgehen können Fachkräfte gezielter eingesetzt werden. Es wird beispielsweise vermieden, dass es zu einer Mehrfachinanspruchnahme von Praxen einer Arztgruppe kommt, da Patienten ohne Überweisung der primärversorgenden Stelle bestimmte Fachärzte nicht mehr konsultieren können. In der Folge würden dadurch auch Wartezeiten auf medizinisch notwendige Behandlungen reduziert.

Damit das Primärversorgungssystem funktioniert, braucht es das Engagement aller Beteiligten und eine klare interprofessionelle Ausrichtung. Vor einer Umsetzung sind aber noch viele Fragen zu klären. Alle für die Behandlung relevanten medizinischen Daten, wie Therapieberichte, Befunde usw. müssen zum Beispiel bei der primärversorgenden Stelle zusammenlaufen und digitale Prozesse dafür definiert werden.

Welche Auswirkungen würde ein solches System auf den Zugang zur Physiotherapie haben?

Repschläger: Bereits heute gibt es eine Steuerung der Patienten im Heilmittelbereich. Gesetzlich versicherte Patienten haben nur mit einer ärztlichen Überweisung Zugang zur Physiotherapie. Eine Ausnahme bietet der Zugang über die sektorale Heilpraktikererlaubnis, bei der die Patienten auf Selbstzahlerbasis physiotherapeutische Leistungen erhalten können. Aber um das hier einmal ganz klar zu betonen: Dieser Weg stellt einen Umweg dar. Wir wollen als Physiotherapeuten im Direktzugang tätig sein und nicht als sektoraler Heilpraktiker.

Der IFK setzt sich schon lange für die Einführung des Direktzugang ein, in dem die Patienten ohne vorherige Konsultation des Arztes vom Physiotherapeuten behandelt werden können. Wie passt das mit dem Primärversorgungssystem zusammen?

Repschläger: Tatsächlich sind wir der Meinung, dass das eine das andere nicht ausschließt, der Direktzugang sogar eine sinnvolle Ergänzung und ein Baustein zur Entlastung der Ärzte – und damit auch zur Kostenreduzierung – wäre. Denn das Ziel dieses Systems ist eine sinnvolle Reduzierung der Arztkontakte und bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen innerhalb des Gesundheitssystems.

Im Direktzugang würden vom Therapeuten beispielsweise Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerdebildern behandelt, die einen eher kurzfristigen Behandlungsbedarf aufweisen. Praktisch würde das wie folgt aussehen: Nach einem Screening entscheidet der Physiotherapeut, ob eine Behandlung im Direktzugang möglich ist. Wenn ja, führt er eine Diagnostik durch und informiert direkt die primärversorgende Stelle. Wenn nein – also beim Auffinden von „Red Flags“ –, verweist er den Patienten zur weiteren Koordination der Behandlung an diese. Damit wird das Primärversorgungssystem angemessen berücksichtigt, Steuerung ermöglicht und Missbrauch vorgebeugt. Wichtig ist der geregelte Austausch von Informationen, damit die primärversorgende Stelle koordinieren kann.

Auch der weitere Behandlungsverlauf müsste Vorgaben folgen. Nach der Diagnostik wäre eine maximale Anzahl an Behandlungseinheiten möglich (beispielsweise fünf). Wenn keine – abschließende – Besserung erfolgt ist, würde der Patient an die primärversorgende Stelle weitergeleitet, die aufgrund der ihr vorliegenden Informationen weitere Maßnahmen festlegen kann. Die Informationsgewalt bliebe in einem solchen Fall bei der primärversorgenden Stelle, doch der Physiotherapeut würde einen Teil der Patientenlast abfangen und auch damit wieder zur Kostenreduktion des Gesamtsystems beitragen.

Für dieses Szenario fehlt uns aber immer noch die Einführung des Direktzugangs allgemein. Vorbereitend dazu ist das Wichtigste, dass die Kompetenzen, die für den Direktzugang qualifizieren, im Berufsgesetz verankert werden. Dies war im bekannt gewordenen Vorentwurf eines Referentenentwurfs des BMG in der letzten Legislaturperiode bereits der Fall, insofern könnte man an diesen Entwurf anknüpfen. Bleibt es bei einer Teilakademisierung, muss die Verankerung zwingend für hochschulisch und fachschulisch ausgebildete Therapeuten gelten. Für fachschulisch ausgebildete Therapeuten als Kompromissvorschlag auch im Rahmen einer Weiterbildung bzw. Zusatzqualifikation im Anschluss an die Ausbildung. Damit würde garantiert, dass Physiotherapeuten im Selbstzahlerbereich selbstständig heilkundlich tätig werden können. Der sektorale Heilpraktiker würde damit – endlich – obsolet und Physiotherapeuten können auch in ihrem eigenen Beruf selbstständig heilkundliche Tätigkeiten ausüben. Der Direktzugang würde in diesem Fall – zunächst – nur in der Privaten Krankenversicherung bzw. im Selbstzahlerbereich ermöglicht. Die entsprechenden Ergänzungen im Berufsgesetz wären gleichsam die Grundvoraussetzung, um dann auch in der GKV im Rahmen der Primärversorgung den Direktzugang einführen zu können.

Der Artikel erschient zuerst im Fachmagazin physiotherapie (Ausgabe 5-25).

Foto Copyright: IFK_axentis.de/Lopata

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