„Wir sollten anfangen, mit allen Menschen so gleich wie möglich umzugehen“
Marco Pichler ist selbstständiger Physiotherapeut in Pforzheim und betreute bei den Special Olympics World Games 2023 in Berlin in einem speziellen Programm die teilnehmenden Athleten. Der IFK sprach mit ihm über seine Erfahrungen. Dieses Interview erschien in der Septemberausgabe des IFK-Fachmagazins "physiotherapie".
Sie waren als Physiotherapeut bei den Sommerspielen der Special Olympics im Healthy Athletes Programm im Bereich Fun Fitness eingesetzt. Um was für ein Programm handelt es sich und welche Aufgaben hatten Sie?
Pichler: Healthy Athletes ist ein Gesundheitsprogramm, das sich an alle teilnehmenden Athleten richtet. Es handelt sich dabei nicht um eine Wettkampfbetreuung, sondern um einen Gesundheits-Check-up, der sowohl vor den eigentlichen Wettkämpfen aber auch danach kostenlos in Anspruch genommen werden kann. Healthy Athletes ist ein komplettes Screening-Programm, das neben Bewegung/Physiotherapie auch die Bereiche Sehen, Hören, Podologie, Ernährung und die psychologische Betreuung umfasst. Dabei werden – wenn benötigt – auch bei Bedarf Brillen oder Hörgeräte ausgegeben. Die Idee dahinter ist, dass auch Teilnehmer aus Ländern, in denen die Gesundheitsversorgung möglicherweise nicht zu gut aufgestellt ist, sich durchchecken lassen können. Schließlich sind bei den Special Olympics Athleten aus 170 Ländern vertreten.
Ich war im Bereich Fun Fitness eingesetzt, der den bewegungstechnischen beziehungsweise physiotherapeutischen Bereich abdeckt. Fun Fitness besteht aus fünf standardisierten Stationen, die der Sportler durchläuft und die funktionellen Bereiche Flexibilität, Ausdauer, Kraft und Balance abdeckt. Bei der letzten Station werden die Ergebnisse zusammengeführt und für jeden Teilnehmer individuell bewertet. Die Konsequenz kann sein, dass wir dem Sportler Übungen zeigen, die er zuhause ausführen kann oder ihm den Rat mit auf den Weg geben, sich physiotherapeutisch weiter behandeln zu lassen.
Wie sieht der Arbeitsalltag vor Ort aus?
Pichler: Das Healthy Athletes Programm mit dem Bewegungsparcours befand sich in einer großen Halle, die Sportler konnten mit ihrer Startnummer einchecken, bekamen einen sog. Laufpass und konnten damit die von ihnen ausgewählten Bereiche aufsuchen. Wir Physiotherapeuten haben die einzelnen Stationen betreut. Bei der Station Flexibilität wurden die großen Gelenke vermessen, die Kraft wurde durch Sit-ups oder Hochstemm-Übungen geprüft und die Ausdauer mittels eines Step-Tests erfasst. Die Einsatzzeiten für die Physiotherapeuten waren unterschiedlich von halb- bis ganztags und konnten im Vorfeld gewählt werden. Ich hatte mir absichtlich die Frühschicht ausgesucht, damit ich als Zuschauer noch was von den Wettkämpfen mitbekommen konnte. Das Besondere – ganz anders als bei einer normalen Wettkampfbetreuung – ist, dass sowohl die Kollegen als auch die Sportler aus aller Herren Länder kommen. Ich hatte beispielweise Kollegen aus Australien, den USA und Schweden und die Athleten bei mir an der Station kamen unter anderen auch aus Nicaragua, Kasachstan und China.
Konnten Sie Unterschiede zwischen den Athleten in Bezug zum Herkunftsland aber auch im Vergleich zu nicht-behinderten Sportlern feststellen?
Pichler: Im Vorfeld hatte ich Bedenken, dass es möglicherweise Unterschiede zwischen den Ländern gibt und nicht jeder Athlet ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung hat. Das hat sich aber nicht bestätigt, alle Nationen waren eigentlich recht gut abgedeckt. Auch was den Trainingszustand betrifft, wurde ich angenehm überrascht. Die Sportler waren trainierter als ich gedacht hatte und als man es Menschen mit geistiger Behinderung im Allgemeinen vielleicht zutraut. Wenn es Unterschiede gab, dann eher zwischen den Sportarten. Die Fußballer waren alle extrem durchtrainiert und hatten super Werte. Mehr Einschränkungen gab es etwa in Disziplinen wie Tischtennis oder Boccia. Auf der gesamten Veranstaltung herrschte eine ganz besondere Stimmung.
Wo passiert es einem Physiotherapeuten schon, dass auch die Angehörigen auf einen zu kommen und sagen: „Danke, es ist schön, dass ihr da seid!“? Und auch sonst war die Stimmung positiv geprägt mit unglaublich viel Freude. Die Menschen waren sehr herzlich und es kam gelegentlich vor, dass man einfach in den Arm genommen wurde.
Wie sind Sie zu Ihrem Einsatz bei den Special Olympics gekommen und wie vereinbaren Sie Ihre Tätigkeit in der eigenen Physiotherapiepraxis damit?
Pichler: Ich bin tatsächlich durch eine Fernsehwerbung darauf aufmerksam geworden,
habe mich beworben und es hat funktioniert. Dazu muss ich sagen, dass es sich bei meinem Einsatz bei den Special Olympics um ein reines Ehrenamt gehandelt hat. Es gab keine Aufwandentschädigung. Ich habe es gemacht, weil ich Inklusion für sehr wichtig halte und diese bei uns in Deutschland – zumindest meiner Meinung nach – noch nicht optimal ausgeprägt ist. Da könnte sich noch mehr tun und das möchte ich unterstützen. Ich war sechs Tage lang vor Ort in Berlin. In der Zwischenzeit haben mich meine Mitarbeiter in meiner Praxis vertreten und alles gut hinbekommen. Zugegeben waren die Special Olympics für mich natürlich auch ein wenig Abwechselung vom durchgetakteten Praxisalltag. Ich würde es wieder machen und kann nur allen – insbesondere den jüngeren Kollegen – empfehlen, so etwas einmal mitzumachen. Ich habe viele gute Gespräche, auch mit Kollegen aus dem Ausland, geführt. Es war sehr interessant zu erfahren, wie sich Ausbildung und das Arbeiten in dem jeweiligen Land darstellen. Und neue Einsichten darüber, wie leistungsfähig Sportler mit Einschränkungen sind, habe ich auch gewonnen. Wir sollten anfangen, mit allen Menschen so gleich wie möglich umzugehen.
Fotos: Marco Pichler
Lesen Sie hier das Interview mit Ulrich Niepoth, der als Physiotherapeut Spitzensportler bei den Paralympics betreut.
Paralympics und Special Olympics
Die Paralympischen Spiele, auch Paralympics genannt, sind internationale Sportwettbewerbe für Sportler mit Körperbehinderung, die sich an der Idee der Olympischen Spiele orientieren. Die Paralympics werden organisiert vom Internationalen Paralympischen Komitee und sind aufgeteilt in Paralympische Sommerspiele und Paralympische Winterspiele. Die jeweiligen Spiele finden alle vier Jahre direkt im Anschluss an die Olympischen Sommerspiele bzw. Olympischen Winterspiele an denselben Orten statt. Die Special Olympics sind internationale Sportwettbewerbe für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung. Die Veranstaltung ist vom Internationalen Olympischen Komitee offiziell anerkannt. Das Ziel von Special Olympics ist es, als Inklusionsbewegung Menschen mit geistiger Behinderung durch den Sport zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen. Die Weltspiele (World Games) finden alle zwei Jahre im Wechsel mit den Sommer- und Wintersportarten statt. Die Sommerspiele 2023 fanden im Juni in Berlin statt.