Interview mit Long-Covid-Expertin Dr. Jördis Frommhold

Wir sehen nicht nur das einzelne Fachgebiet, sondern den Patienten als Ganzes

Dr. Jördis Frommhold ist Fachärztin für innere Medizin und Autorin mehrerer Bücher über Long Covid. Mit Aufkommen der Coronavirus-Pandemie wurde Sie in Deutschland durch Auftritte als Expertin in den Medien bekannt. Sie sprach mit uns im Interview über die Gründung des „Institut Long Covid“ und die Herausforderungen in der Behandlung dieser komplexen Behandlung. Der Artikel erschien in der physiotherapie 1-2023

 

Im Oktober 2022 haben Sie das „Institut Long Covid“ gegründet, das im Januar 2023 an den Start gegangen ist. Was ist das Besondere dieses Instituts?

Es ist eine komplett neue Versorgungsform, die wir anstreben. Bei einem so umfangreichen Krankheitsbild wie Long Covid sollte es nicht so sein, dass die Patienten ständig von A nach B geschickt werden. Wenn die ärztliche Diagnostik bereits abgeschlossen und Long Covid diagnostiziert ist, können die Patienten bei uns Termine vereinbaren und wir planen mit ihnen, wie es weiter geht. Im Moment ist das leider noch eine Selbstzahlerleistung, aber wir stehen schon in Kontakt mit verschiedenen Krankenkassen und hoffen, dass wir perspektivisch diese Versorgung für alle Betroffenen möglich machen können.

 

Worum geht es beim „Institut Long Covid“ genau?

Wir haben in Deutschland nicht mehr unbedingt das Problem, dass Long-Covid-Patienten nicht ernst genommen werden. Das ist im Vergleich zum Beginn der Pandemie deutlich besser geworden. Die unterschiedlichen Diagnostiken finden zum Beispiel beim Hausarzt, Facharzt oder auch in Spezialambulanzen durchaus statt. Das Problem ist aber, dass es noch keine kausale Therapie gibt. Es gibt also nicht die eine Pille, die man nimmt, und dann ist man geheilt. Und ich denke auch nicht, dass das kommen wird.

Beim genauen Hinschauen sieht man, dass man die Long-Covid-Patienten unterschiedlichen Clustern zuordnen muss, es gibt die klassischen Fatigue-Patienten, bei denen sich Auto-Antikörper gebildet haben, aber auch solche mit pneumologischen Problemen. Es ist also nicht jeder Long-Covid-Patient gleich. Es gibt unterschiedliche Fokus-Bereiche, an denen auch ausgemacht wird, wie der Patient weiter behandelt werden kann. Was wir aber aus der rehabilitativen und physikalischen Therapie wissen, ist dass wir die Symptome von Long-Covid-Patienten lindern – wenn auch nicht heilen – können, wenn wir individualisierte Therapien anwenden. Und vor allem können wir ihnen helfen zu lernen, mit diesem Erkrankungsbild umzugehen und wieder in ein halbwegs normales Leben zurückzufinden.

Besonders der Bereich Physiotherapie, zum Beispiel Atemtherapie oder Manuelle Therapien, ist ein häufig benötigter Bestandteil der Therapie von Long-Covid-Patienten. Aber leider sind vielen Hausärzten und auch Fachkollegen in den Spezialambulanzen diese Möglichkeiten nicht wirklich bewusst. Da werden Patienten nach Hause geschickt, nachdem die Diagnostik unauffällig geblieben ist, und werden auf Dauer krankgeschrieben, ohne dass irgendetwas passiert.

 

Und was ändern Sie an diesem Problem?

Mit dem „Institut Long Covid“ haben wir uns auf die Fahne geschrieben, die Informationen, die wir aus der Erfahrungsmedizin haben, möglichst frühzeitig an die Betroffenen weiterzugeben. Außerdem betreuen wir die Patienten auch weiter und planen zum Beispiel wie eine Wiedereingliederung ablaufen kann oder ob eine stationäre Reha notwendig ist. Wir sind allerdings keine Reha-Klinik, sondern sehen uns eher in der Patientenlotsenfunktion. Es ist unser Ziel, diese sehr behandlungsintensiven Long-Covid-Patienten zu betreuen, denn dafür ist in den existierenden Strukturen in den Praxen häufig keine Zeit. Wir laufen zwar unter dem Namen „Institut Long Covid“, aber wir betreuen selbstverständlich auch Patienten, die nach Impfungen teilweise Long-Covid-ähnliche Symptome aufweisen.

Das Institut an sich hat aber auch noch weitere Ansatzpunkte, wir beraten zum Bespiel Unternehmen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement, dem Umgang mit Long-Covid-Patienten und möglichen Wiedereingliederungsprozessen. Wir wollen perspektivisch zudem Psychologen, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter einstellen, um unser Portfolio zu erweitern und dafür auch digitale Möglichkeiten anwenden. Es soll eine Art Long-Covid-Mediathek entstehen als niederschwelliges Angebot für breitgefächerte Informationen zu Long-Covid. Wir sehen nicht nur das einzelne Fachgebiet, sondern den Patienten als Ganzes.

Deutschlandweit haben wir es mit fast Millionen Patienten mit Long-Covid-Symptomen zu tun, sodass da einiges auf das Gesundheitssystem zukommt.

 

Immer häufiger haben auch ambulant tätige Physiotherapeuten in der Praxis mit Long-Covid-Patienten zu tun. Wie erkennt man als Physiotherapeut einen Patienten, der Long-Covid-Symptome zeigt, aber noch keine Diagnose hat?

Es ist sehr wichtig, dass auch Physiotherapeuten mit der Symptomatik von Long-Covid-Patienten vertraut sind, weil sie häufig über eine längere Zeit Kontakt zu Patienten haben als der Hausarzt, der den Patienten nur fünf Minuten in der Praxis sieht. Wenn ein Patient beispielsweise klagt, dass er ständig erschöpft ist – als wäre der „Stecker gezogen“ worden, wird häufig gesagt –, sich nicht mehr konzentrieren kann, vermehrt diffuse Schmerzen oder Schlafstörungen hat, dann sind das Kriterien, die in die Richtung Fatigue/Long-Covid deuten. Aber auch der Blick auf die Atemmechanik kann hilfreich sein: Wenn Patienten etwa beim Einatmen die Schultern hochziehen, beim Reden nach Luft schnappen, häufig heiser sind oder bei kleinsten Anstrengungen bereits massiv hyperventilieren; und man vielleicht auch noch weiß, dass es eine Infektion in der Vorgeschichte gab – dann kann man da schon hellhörig werden.

 

Wie sollten Physiotherapeuten mit einem Patienten umgehen, der an Long-Covid leidet?

Wenn bei einem Patienten bekannt ist, dass er Long Covid hat, sollte man ganz klein anfangen. Selbst wenn der Patient angibt, dass er vor der Infektion Marathon gelaufen ist, muss man darauf achten, ihn nicht überzubelasten. Auch wenn der Patient sich an einem Tag gut fühlt, sollte der Therapeut trotzdem vorsichtig bleiben. An solchen Tagen können die Patienten vielleicht sogar die Leistung bringen, aber danach kann es zu Problemen kommen. In diesem Zusammenhang ist Kommunikation sehr wichtig. Zum Beispiel sollte nicht nur gefragt werden, wie die letzte Einheit war, sondern auch, wie es dem Patienten am nächsten Tag ging. Vielleicht ist es auch hilfreich, wenn die Patienten ein Symptomtagebuch führen.

 

Was hat sich bei der Behandlung von Long Covid in den letzten zwei Jahren verändert, zum Beispiel durch neue Erkenntnisse?

Als ich zum ersten Mal öffentlich im Fernsehen darüber gesprochen habe, dass es nicht nur die akut Schwersterkrankten gibt, sondern auch milde Verläufe, die Long-Covid-Symptome nach sich ziehen können, war das Thema noch gar nicht beliebt und viele dachten, man sollte besser gar nichts dazu sagen. Die Patienten waren vollkommen aufgeschmissen. Sie wurden in ihren Symptomen überhaupt nicht beachtet. Die öffentliche Wahrnehmung und auch die Akzeptanz hat sich zum Glück deutlich verbessert, aber man darf nicht vergessen, dass das noch nicht flächendeckend so ist. Wir sehen immer noch Patienten, die ihre Infektion im Jahr 2020 hatten und bei denen bis jetzt nur eine Krankschreibung erfolgt ist, aber keine Therapie.

Wir merken zwar, dass die Akzeptanz allgemein steigt, aber es muss auch ein Bewusstsein dafür geschaffen werden. Es gibt bereits Studien und es sind einige Millionen Studiengelder geflossen, aber das ist für so ein Krankheitsbild wie Long-Covid ein Tropfen auf den heißen Stein. Es gibt auch schon einiges an Erkenntnissen und einige experimentelle Therapiestudien, aber es dauert einfach eine gewisse Zeit, bis es Ergebnisse gibt. Der Bereich Forschung braucht also noch viel finanzielle Unterstützung, ebenso wie der Bereich Aufklärung und transsektorales Arbeiten.

 

Gibt es klare Vorgaben für die Behandlung von Long-Covid-Patienten?

Es gibt keinen wirklichen Leitfaden für die Behandlung von Long-Covid-Patienten. Es gibt zwar die S1-Leitline für Long und Post Covid. Darin steht, welche Diagnostik gemacht werden soll, dass es keine kausale Therapie gibt und dass eine Reha angeraten ist. Aber da geht es schon los: Es steht nämlich nicht drin, welche Therapien in der Reha durchgeführt werden sollen. Wenn man dann Fatigue-Patienten genauso behandelt wie Patienten, die hauptsächlich Atemmechanikprobleme haben, dann werden die Fatigue-Patienten überfordert. Das heißt, man muss differenzieren, welche Art von Reha Sinn macht. Wir haben für das Institut aus unserer Expertise heraus einen Leitfaden erstellt, was wann empfohlen werden kann. Wir fragen unter anderem ab, ob schon mal Physiotherapie oder Fatigue-Schulungen stattgefunden haben. Da muss man abwägen, wie der Aufklärungsstand des Patienten ist.

 

Ist Inhalation im Zusammenhang mit Long Covid sinnvoll?

Wir haben viele Patienten, die über Symptome wie Druck auf der Brust klagen oder nicht richtig durchatmen können. Bei manchen ist eine asthmatische Komponente vorbeschrieben, dann hilft inhalative Therapie natürlich. Es gibt allerdings auch Patienten, die zwar über diese Symptome klagen, bei denen die Lungenfunktion aber eigentlich nicht auffällig ist. Auch da kann man mit inhalativem Kortison über drei Monate probieren, ob Besserung eintritt. Häufig ist es aber so, dass Patienten über diese Beschwerden klagen, obwohl ihre Lungenfunktion gut ist. Dann macht Inhalationstherapie mit Medikamenten keinen Sinn.

 

Was können Patienten schon präventiv machen, wenn sie sich mit Corona infizieren, um eventuell einer Long-Covid-Erkrankung vorzubeugen?

Es gibt bestimmte Lifestyle-Parameter, die man beachten kann. Natürlich gibt es keine Prävention für die Bildung von Auto-Antikörpern, aber das betrifft ja auch nicht jeden Long-Covid-Patienten. Es gibt viele Patienten, deren Hauptproblem im Bereich der Atmung liegt. Das rührt häufig daher, dass sie in der Akutphase, obwohl sie es gar nicht merken, eine pneumonale Beteiligung haben, eine sogenannte stille Hypoxie. Dieser verminderte Sauerstoffgehalt im Blut kommt bei Long-Covid-Patienten relativ häufig vor. Es ist nicht so, dass diese Patienten während der Akutphase wirklich eingeschränkt sind. Aber sie eignen sich eine sehr flache Atmung an, atmen nur noch im oberen Brustbereich, merken das häufig nicht und verschleppen diese falsche Atemtechnik. Nach drei, vier, fünf Wochen wollen diese Patienten dann beispielsweise wieder mit Sport anfangen und merken, dass sie nicht gut Luft bekommen. Dem kann man schon entgegenwirken, indem man in der Akutphase mit Kochsalzlösung inhaliert oder schon ein paar Atemübungen für tiefe Atmung macht, sodass man gar nicht erst in diese Schonatmung hineinkommt. Denn darüber lässt sich dieser Bereich der Spätfolgen schon deutlich reduzieren.

Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die von zuhause arbeiten oder zuhause Sport machen, wenn sie nur leichte Symptome haben. Sie nehmen sich nicht die notwendige Rekonvaleszenzzeit, die aber extrem wichtig ist. Dabei ist es eigentlich egal, über welche Infektionskrankheit wir sprechen. Krankheiten müssen akut ausheilen. Wenn das nicht geschieht, hat man ein Risiko, das sich Viruspersistenzen entwickeln. Diese zurückbleibenden Viren lassen sich dann zwar nicht mehr in einem Test nachweisen, aber sie können dennoch Folgeschäden begünstigen. Auch wenn man eine Infektion überstanden hat, sollte man sich in Achtsamkeit üben und zum Beispiel beim Wiedereinstieg in den Sport erst einmal mit 50 Prozent anfangen, dann steigern und nicht gleich im vollen Pensum starten. Das sind die wichtigsten Dinge, die man selbst tun kann.

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