IFK-Positionen: Interprofessionelle Zusammenarbeit
Das deutsche Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Viele unterschiedliche Professionen setzen ihre Kompetenzen dafür ein, den Patientinnen und Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Oftmals findet hierzu bereits ein reger Austausch zwischen den einzelnen Professionen statt. Denn eins ist klar: Wenn alle Akteurinnen im Gesundheitssystem eng miteinander kooperieren und so ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen, sorgt das für eine effektive und effiziente Versorgung. Das vermindert Fehler und erhöht die Zufriedenheit der Patientinnen sowie der Leistungserbringer. Aktuell ist diese Zusammenarbeit jedoch von der Eigeninitiative der beteiligten Personen abhängig. Dadurch bleiben Synergien ungenutzt, die Behandlungsdauer verlängert sich und es entstehen unnötige Kosten. Das Zusammenspiel aller Professionen im medizinischen Bereich muss daher dringend gestärkt werden – hin zu einer Kultur, in der interprofessionelle Zusammenarbeit ganz selbstverständlich an der Tagesordnung steht.
Unter interprofessioneller Zusammenarbeit versteht die Weltgesundheitsorganisation „die Zusammenarbeit verschiedener Professionen, Patienten, Klienten, Angehörigen, aber auch Gesellschaften“, um eine optimale Gesundheitsversorgung zu gewährleisten“. Was zunächst vielleicht kompliziert klingt, ist im Grunde einfach darzustellen: Die Patientin steht im Mittelpunkt aller Bestrebungen. Und für ihre optimale Versorgung arbeiten alle Berufsgruppen sowie auch die Angehörigen im engen Austausch Hand in Hand. Warum ist das so wichtig?
Mit Blick auf den demografischen Wandel wird schnell klar: Die Menschen werden immer älter. Dadurch gibt es immer mehr (ältere) Patientinnen, die nicht nur an einer, sondern gleich an verschiedenen Erkrankungen leiden. Das macht die sachgerechte Versorgung komplexer – und eine Abstimmung der einzelnen Akteurinnen umso wichtiger. Aber nicht nur im geriatrischen Bereich, beispielsweise auch bei akuten orthopädischen Krankheitsbildern, nach chirurgischen Eingriffen oder im Bereich der Kinderneurologie hängt ein gutes Behandlungsergebnis von einem schnellen Informationsfluss und einer gemeinsamen Zielrichtung in der Therapie ab.
Das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) hat sich unter der Leitung von Prof. Dr. med. Jana Jünger umfassend mit der Thematik beschäftigt und gemeinsam mit einem Expertengremium Empfehlungen zur Gestaltung der interprofessionellen Lehre an den medizinischen Fakultäten erstellt – das Nationale Mustercurriculum Interprofessionelle Zusammenarbeit und Kommunikation. In den Empfehlungen heißt es, dass eine zielführende interprofessionelle Zusammenarbeit unter anderem die Behandlungsqualität und Patientensicherheit verbessert. Außerdem steigt die Zufriedenheit der Patienten sowie der medizinischen Fachkräfte und durch die erhöhte Effizienz werden sogar Kosten eingespart. Viele Gründe also, das Thema noch konsequenter anzugehen. Dazu sind drei Schritte nötig.
Schritt 1: Interprofessionelle Ausbildung muss Standard werden
Um die interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis intensivieren zu können, bedarf es einem Miteinander auf Augenhöhe. Den Angehörigen aller medizinischen Berufsgruppen muss klar sein, warum es so wichtig ist, über-, von- und miteinander zu lernen. Das sorgt dann nicht nur dafür, dass die gemeinsame Patientenorientierung noch stärker in den Mittelpunkt rückt. Es dient auch dazu, die Zuständigkeiten und Kompetenzbereiche anderer Berufsgruppen genauer kennenzulernen, Vorurteile abzubauen und die Anerkennung gegenüber der Expertise anderer Professionen zu erhöhen.
Damit diese Haltung für alle Beteiligten selbstverständlich wird, muss die Grundlage bereits in der Ausbildung gelegt werden.
peziell für Medizinstudierende hat das IMPP federführend und mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung das oben genannte Nationale Mustercurriculum „Interprofessionelle Zusammenarbeit und Kommunikation“ entwickelt. Folgende vier Kernkompetenzen /Lernbereiche wurden dabei identifiziert:
- Werte und Ethik
- Interprofessionelle Kommunikation
- Rollen und Verantwortlichkeiten
- Interprofessionelle Zusammenarbeit
Mittlerweile sind sie im „Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin“ (NKLM) verankert. Entsprechendes müsste in den Curricula der Heilmittelerbringer und anderer an der Versorgung der Patientinnen beteiligter Berufe – wie beispielsweise der Pflege – verankert werden. Gleiche Lernziele und in der Folge gleiche Kompetenzen sind die beste Voraussetzung für eine gelungene Zusammenarbeit.
Eine Akademisierung, wie vom Bündnis „Therapieberufe an die Hochschulen“ gefordert, könnte das sichern. Der von den Bündnispartnern gemeinsam entwickelte Entwurf zur Novellierung der Berufsgesetze in der Physiotherapie sieht in der dazugehörigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (APrV) verschiedene Kompetenzbereiche für den theoretischen und praktischen Unterricht sowie die Prüfung zum Thema Zusammenarbeit vor: „Intra- und interprofessionelles Handeln in unterschiedlichen Versorgungskontexten verantwortlich gestalten und kooperativ und effektiv zusammenarbeiten“. Darauf aufbauend könnten sowohl ein gemeinsamer Unterricht als auch gemeinschaftliche Prüfungen mit Pflege- und Medizinstudentinnen erfolgen. Bei den Prüfungen bieten sich sogenannte OSCE-Prüfungsstationen (Objective Structured Clinical Evaluation) an. Dabei werden klinische Situationen mit „standardisierten Patienten“ – eingewiesene Personen – nachgestellt. Beispielsweise bei einer nachgestellten Übergabesituation könnten Mediziner und Physiotherapeutinnen gleichzeitig in ihren Fähigkeiten, bezogen auf den interprofessionellen Austausch relevanter Informationen, geprüft werden.
Die Novellierung der Berufsgesetze aller Heilmittelerbringer, die die Politik angekündigt hat, bietet hier also die Chance, etwas zu ändern. Wir werden darauf achten, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit als Kompetenzziel fest in die Ausbildung integriert wird – unabhängig davon, ob die Ausbildung an Berufsfachschulen oder an Hochschulen
Schritt 2: Kommunikation zwischen den Akteuren muss gestärkt werden
Doch wir können nicht tatenlos warten, bis interprofessionelle Zusammenarbeit selbstverständlich geworden ist, weil alle künftigen Berufsausübenden das so während ihrer Ausbildung gelernt haben. Schon jetzt müssen wir daran arbeiten, die Kommunikation zwischen den Professionen deutlich zu verbessern. Laut IMPP entstehen zwei Drittel aller Fehler im medizinischen Bereich aufgrund ungenügender Kommunikation. Hier müssen wir also gemeinsam kurzfristig ansetzen.
Ein positives Beispiel gibt es bereits aus dem Bereich der Privaten Krankenversicherungen. Dort gibt es die Leistungsposition „Physiotherapeutische Komplexbehandlung in der Palliativmedizin“. Hier ist ausdrücklich festgehalten, dass die interprofessionellen Absprachen während der Behandlungszeit stattfinden sollen. Es ist also zum einen klar geregelt, dass der Austausch stattfinden soll, und zum anderen, dass der Therapeut diesen Aufwand auch als Arbeitszeit vergütet bekommt. Dieser Grundsatz sollte auch in anderen Bereichen zur Selbstverständlichkeit werden.
Ein Mittel für mehr interprofessionelle Zusammenarbeit könnte der Austausch über Berichte sein. Bei Einführung der Heilmittel-Richtlinien gehörte eine Kurzmitteilung vom Therapeuten an den Arzt („kleiner Therapiebericht“) zu jeder Verordnung dazu. Doch das Interesse der Ärzteschaft war begrenzt, sodass er inzwischen nur noch „auf Anforderung“ erstellt wird – ein klarer Rückschritt in der interprofessionellen Kommunikation.
Positiver ist hingegen zu erwähnen, dass wir mit unserer Forderung nach einem „großen Therapiebericht“ für besondere Fälle Gehör gefunden haben. Dieser wurde als „Physiotherapeutischer Bericht auf schriftliche Anforderung“ umgesetzt. Er kann von Ärztinnen, gesetzlichen Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst angefordert werden. Das Erstellen des Berichts wird dann vergütet.
Eine positive Entwicklung ist zudem bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zu verzeichnen. Die Ärztin kann hier neuerdings die Therapeutin um einen Anruf bitten, indem sie auf der Verordnung an der entsprechenden Stelle ein Kreuz setzt. Das Telefonat ist für die Therapeutin nicht verpflichtend, kann aber den Austausch zwischen den Professionen fördern.
Doch neben dem Therapiebericht ist auch diese Bitte um einen Rückruf höchstens ein kleiner Baustein der interprofessionellen Kommunikation. Denn Kernproblem bleibt, dass es sich in beiden Fällen um eine „one-way“-Kommunikation handelt. Warum kann die Therapeutin die Ärztin nicht um einen ausführlichen Bericht oder einen Rückruf bitten? Interprofessionelle Zusammenarbeit muss den beidseitigen Austausch ermöglichen – und zwar gleichberechtigt auf Augenhöhe.
Technische Erleichterung in der interprofessionellen Kommunikation könnte – sinnvoll genutzt – die Digitalisierung schaffen. Mit der sogenannten Telematikinfrastruktur sollen künftig alle Akteurinnen des Gesundheitswesens vernetzt werden, um ohne großen Aufwand Informationen über die Patientinnen auszutauschen – natürlich unter Einbehaltung des Datenschutzes und nur, wenn die Patientin damit einverstanden ist. Sie soll etwa entscheiden dürfen, wer Einblick in welche Bereiche ihrer elektronische Patientenakte erhält. Im Idealfall gewährt die Patientin der Physiotherapeutin nicht nur Zugriff auf die Daten, die konkret die anstehende Behandlung betreffen – also beispielsweise OP- und Reha-Berichte. Sinnvoll wäre es, wenn die Therapeutin zusätzlich Einblick in sämtliche weiteren Gesundheitsdaten hätte. Dann könnte sie bei der Ausgestaltung der Therapie zum Beispiel berücksichtigen, dass die Patientin an einem Herzfehler leidet und daher nicht zu stark trainiert werden darf – eine sehr relevante Information, die möglicherweise nicht im Bericht der Ärztin an die Therapeutin gestanden hätte. Wenn alle Akteurinnen jederzeit auf alle relevanten Informationen zugreifen können, verringert sich die Gefahr unvollständiger Kommunikation, was die Patientensicherheit deutlich stärkt.
Vorteile bietet die Digitalisierung auch für Konsile, in denen sich verschiedene Berufsgruppen mit der Situation eines Patienten beschäftigten. Zum Beispiel mittels Videotelefonie können die Akteure ortsunabhängig zusammenkommen, um die weitere Behandlung zu planen. Der direkte Austausch hilft auch, Grenzen der eigenen Kompetenzen einzuräumen und eine Kollegin einer anderen Profession niedrigschwellig um Weiterbehandlung zu bitten. Hier muss das Wohl der Patientin selbstverständlich immer an erster Stelle stehen.
Doch jegliche Form dieser Zusammenarbeit muss auch finanziell honoriert werden – und zwar in angemessener Höhe und nicht so, wie das aktuell bei der Kurzmitteilung an den Arzt der Fall ist. Die gesetzlichen Krankenkassen vergüten bei diesem „kleinen Therapiebericht“ lediglich die Porto- und Druckkosten. Die Therapeutin muss ihn also wahlweise während einer der letzten Behandlungen oder vollkommen unentgeltlich in ihrer Freizeit verfassen.
Bislang ist es also so, dass der interprofessionelle Austausch überwiegend auf dem persönlichen Engagement einzelner Akteurinnen basiert. Doch die interprofessionelle Arbeit im Sinne der Patientin muss selbstverständlich als Arbeitszeit anerkannt und somit auch entsprechend vergütet werden – und zwar egal, welcher Profession die Fachkraft angehört.
Schritt 3: interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis etablieren
Die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteurinnen ist ein wichtiger Schritt. Darauf aufbauend muss dann aber der gesamte Prozess Hand in Hand verlaufen. Oftmals lassen sich beispielsweise Operationen vermeiden, wenn Patientinnen zuvor an andere Professionen überwiesen wurden.
Ein Bericht der Deutschen Angestellten-Kasse (DAK-Gesundheit) stellt dar, dass eine frühzeitige und umfassende Versorgung mit Physiotherapie einen Gelenkersatz bei Gonarthrose verhindern kann. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik, Stephan Kirschner, hat daraufhin sogar Patientinnen motiviert, Physiotherapie bei ihrer Ärztin „einzufordern“. Ziel aller Bemühungen im Bereich der interprofessionellen Zusammenarbeit muss es sein, dass künftig niemand mehr eine zweckmäßige Therapie einer anderen Profession „einfordern“ muss. Vielmehr sollte es selbstverständlich sein, dass Patientinnen die bestmögliche Behandlung erfahren – unabhängig davon, welche Gesundheitsberufe hierzu eingesetzt werden müssen.
Wie die interprofessionelle Zusammenarbeit im ambulanten Bereich idealerweise aussehen könnte, zeigt ein Beispiel aus der Neurologie.
Beispiel interprofessionelle Zusammenarbeit im ambulanten Bereich
Heilmittelerbringer, Ärzte, Pflege im Bereich Neuro Erwachsene
Ausbildung:
Gleiche Kompetenz
Heilmittelerbringer, Ärzte, Pflege
in Bezug auf interprofessionelle Kernkompetenzen zu folgenden Bereichen:
- Werte und Ethik
- Interprofessionelle Kommunikation
- Rollen und Verantwortlichkeiten
- Interprofessionelle Zusammenarbeit
(Vergleich Nationales Mastercurriculum)
↓
Beispiel: 70-jähriger Mann nach Schlaganfall
Medizinische Diagnostik Arzt
Dokumentation der Ergebnisse in digitaler Patientenakte
Verordnung für Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie
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Therapeutische Diagnostik
unter Berücksichtigung der ärztlichen Dokumentation
Dokumentation der therapeutischen Diagnostik in digitaler Patientenakte
↓
Nutzung aller Kompetenzen:
- Einsicht in die Dokumentation der anderen Professionen
- Information untereinander unter Verwendung von KIM
- Weiterleitung, wenn eigene fachliche Grenze erreicht ist
↓ ↑
Je nach Bedarf:
- Interprofessionelles Videokonsil
- Videokonsil unter Einbezug des Patienten und ggf. der Bezugsperson
- Zwischenbefundung und Dokumentation
↓ ↑
Therapie des Patienten ggf. unter Einbezug der Bezugsperson
Je nach Bedarf:
Information untereinander, Konsil, ...
↓
Voraussetzung:
- Anpassung/Änderung der Berufsausbildung
- Digitalisierung von Prozessen
- Vergütung der Kommunikationsleistungen
Fazit
Damit die interprofessionelle Zusammenarbeit zur Selbstverständlichkeit wird und einen echten Mehrwert bietet, müssen drei Schritte erfolgen.
Erstens: Schon in der Ausbildung muss gelehrt werden, dass der Austausch mit anderen Berufsgruppen unabdingbar ist, wenn der Patientin die bestmögliche Behandlung zukommen soll. Dazu müssen interprofessionelle Lehrinhalte in sämtliche Ausbildungswege integriert werden, sodass jede die Kompetenzen der übrigen Berufsgruppen kennt und anerkennt.
Zweitens: Die Kommunikation zwischen den Akteuren muss sich deutlich verbessern. Die Digitalisierung birgt hier große Chancen. Ab dem 1. Januar 2026 müssen sich alle Physiotherapeutinnen verpflichtend an die Telematikinfrastruktur anbinden. Die ersten elektronischen Heilmittelverordnungen sollen dann ab dem 1. Juli 2026 Realität werden. Die Möglichkeit der digitalen Kommunikation muss aber zwingend für alle Gesundheitsakteurinnen gleichermaßen zur Verfügung stehen, gewissenhaft wechselseitig genutzt und selbstverständlich auch angemessen vergütet werden.
Drittens: Interprofessionelle Zusammenarbeit ist nicht nur Kommunikation, sondern auch Handeln. Die Möglichkeiten des Austausches müssen gelebt werden, damit sie zur Normalität werden. Dann profitieren nicht nur die Patientinnen, sondern auch alle anderen Beteiligten des Versorgungsprozesses.
Der Text erschien in der Zeitschrift physiotherapie (Ausgabe 3-23)
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