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IFK-Interview zur Bundestagswahl: Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen

Am 26. September 2021 steht die Bundestagswahl bevor. Diese Wahl wird auch für die gesundheitspolitische Zukunft in Deutschland wichtige Weichen stellen. Daher hat der IFK bei einigen Vertretern der zur Wahl stehenden Parteien nachgefragt, wie sie zu den Themen stehen, die die selbstständigen Physiotherapeuten bewegen.
 

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Die gesundheitspolitischen Positionen dieser Parteien werden hier in den nächsten Wochen bis zu Wahl in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Den Beginn der Reihe macht die gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Maria Klein-Schmeink. Danach folgen:  

•    Dienstag, 24. August: Dr. Roy Kühne, CDU
•    Donnerstag, 26. August: Dr. Achim Kessler, DIE LINKE
•    Dienstag, 31. August: Dr. Wieland Schinnenburg, FDP
•    Donnerstag, 2. September: Bettina Müller, SPD

 

 

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Selbstständige Physiotherapeuten sind ein wesentlicher Bestanteil der ambulanten Gesundheitsversorgung in Deutschland. Das Lohnniveau in der Physiotherapie ist jedoch seit Jahren viel zu gering. Das belastet gerade ambulante Physiotherapiepraxen und führt dazu, dass eine flächendeckende ambulante Versorgung mit Physiotherapie – insbesondere fern der großen Zentren – akut bedroht ist. Wie können Ihrer Meinung nach Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit in der ambulanten Physiotherapie hergestellt werden?

 

 

 

 

Maria Klein-Schmeink: Eine angemessene Vergütung für selbstständige Heilmittelerbringer*innen sollte alle Kosten, auch die Vor- und Nachbereitung von Therapiesitzungen, Hausbesuche etc., angemessen berücksichtigen und es den Praxisinhaber*innen ermöglichen, auskömmlich – auch mit Familie – zu leben, Altersvorsorge zu betreiben und die Angestellten in Anlehnung an den TVöD zu bezahlen. Da ist derzeit sehr häufig noch Luft nach oben. In der zu Ende gehenden Wahlperiode sind nach vielen Mühen erste Verbesserungen erreicht worden, doch die reichen nicht aus.

 

 

Auch die Möglichkeit, über die Vergütungen zu verhandeln, ist eine schwierige Angelegenheit, wie die letzten Angebote der Krankenkassen und das Schiedsverfahren gezeigt haben. Die Wirtschaftlichkeitsvorgaben für die Krankenkassen dürfen nicht dazu führen, dass für Selbstständige und ihre Angestellten nicht qualifikationsgerechte und in Zeiten des Fachkräftemangels nicht konkurrenzfähige Vergütungen die Regel bleiben.

 

 

In unserem Wahlprogramm heißt es: „Gleichzeitig wollen wir die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen stärken. Denn die Versorgung muss von den Patient*innen aus gedacht werden. Dafür wollen wir insbesondere die Einrichtung von kommunalen Gesundheitszentren unterstützen, in denen alle Gesundheitsberufe auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Die Aufgabenverteilung im Gesundheitswesen werden wir so reformieren, dass Gesundheits- und Pflegeberufe mehr Tätigkeiten eigenverantwortlich übernehmen können. Die Arbeitsbedingungen in und die Vergütung von Therapieberufen müssen dringend ihrer wichtigen Rolle im Gesundheitswesen angepasst, das Schulgeld für diese Ausbildungen muss abgeschafft werden.

 

 

Wie stehen Sie zu der Forderung des Bundesverbands selbstständiger Physiotherapeuten (IFK), Patienten den Direktzugang zur Physiotherapie zu ermöglichen?

 

 

Maria Klein-Schmeink: Die Grüne Bundestagsfraktion hat sich bereits in der Vergangenheit für den Direktzugang stark gemacht. Ärzt*innen und Therapeut*innen stehen nicht in einer Rangordnung, in der es anordnende und ausführende Berufe gibt; ihre Kompetenzen ergänzen sich. Es braucht nicht für alles und jedes eine Ärztin oder einen Arzt. Deshalb haben wir uns in der Vergangenheit immer für Modellversuche zum Direktzugang für Heilmittelerbringer eingesetzt. Bei der Evaluation könnten wichtige Fragen zur Qualifikation oder zur Vergütung für neue Leistungen berücksichtigt werden. Damit wären diese Modellversuche auch eine wertvolle wissenschaftliche Begleitung der dringend anstehenden Akademisierung der therapeutischen Gesundheitsberufe. Der Direktzugang bietet zudem Lösungsmöglichkeiten für eine bessere Versorgung, insbesondere im ländlichen Raum.

 

 

Die Telematik-Infrastruktur (TI) wird in Kürze unter anderem die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem erleichtern. Wie sehen Sie in diesem – digitalen – Gefüge die Rolle der Physiotherapeuten? Setzen Sie sich mit dem IFK dafür ein, dass Physiotherapeuten von Anfang an gleichberechtigte Partner in dieser interprofessionellen Zusammenarbeit sein werden – beispielsweise indem sie volle Lese- und Schreibrechte bei der elektronische Patientenakte erhalten?

 

 

Maria Klein-Schmeink: Wir halten eine möglichst schnelle Einbeziehung aller Gesundheitsberufe in die TI für dringend erforderlich. Wer von den Patient*innen aus denkt, muss möglich machen, dass sie in die eigene elektronische Patientenakte alle ihre Behandler*innen einbeziehen können. Gerade diejenigen mit einem komplexen Behandlungs- und Unterstützungsbedarf können von der Koordination und dem direkten Informationszugang aller Beteiligten in besonderer Weise profitieren. Dabei brauchen die Heilmittelerbringer*innen die Möglichkeit voller Lese- und Schreibrechte. Voraussetzung ist natürlich, dass die Patient*innen dies jeweils wollen.

 

 

Leider wurden über viele Jahre die Einrichtung eines Beruferegisters und der Zugang zum elektronischen Heilberufeausweis auf Bundes- und Länderebene verschleppt. Gleichwohl muss die vollständige Einbeziehung ein erstes wichtiges Ziel bei der Weiterentwicklung der TI, der elektronischen Patientenakte (ePA) sowie anderer Anwendungen sein.

 

 

Digitale Gesundheitsanwendungen, also zum Beispiel therapieunterstützende Apps, sind derzeit auf dem Vormarsch. Zum jetzigen Zeitpunkt können diese aber lediglich von Krankenkassen, Ärzten und Psychotherapeuten ausgegeben, also verordnet werden. Unterstützen Sie die Forderung des IFK, dass dieses Recht auf Physiotherapeuten ausgeweitet werden sollte?

 

 

Maria Klein-Schmeink: Wir unterstützen die Einbeziehung therapie- und pflegeunterstützender Anwendungen, sofern ihr Nutzen erwiesen ist und sie in einem Behandlungskontext eingebunden sind – und dies für alle am Behandlungsprozess beteiligten Leistungserbringenden. Kritisch sehen wir derzeit, dass diese Voraussetzungen in vielen Fällen nicht gegeben sind. Wenn der Monatsbeitrag für die Nutzung einer App bedeutend besser vergütet wird als die Quartalspauschale in der Hausarztpraxis oder in der Psychotherapie, ergeben sich ordnungspolitisch viele Unwägbarkeiten für die künftige Versorgung.

 

 

Gerade in der Pandemie hat sich aber gezeigt, dass sowohl Videoformate als auch therapieunterstützende Übungsprogramme einen hohen Wert haben können. Wichtig ist für uns, dass diese Anwendungen nicht zum billigen Therapieersatz umfunktioniert werden, sondern Bestandteil eines Behandlungskonzepts sind.

 

 

Das Berufsgesetz, auf dem die Ausbildung der Physiotherapeuten basiert, muss dringend überarbeitet werden. Ziel muss aus Sicht des IFK neben einer grundlegenden Modernisierung der Ausbildungsinhalte auch die Überführung in eine vollständig akademische Ausbildung aller Heilmittelerbringerberufe sein. Wie stehen Sie dazu?

 

 

Maria Klein-Schmeink: In einem aktuellen Antrag hat die Bundestagsfraktion gefordert, dass ein verbindlicher Fahrplan zur Akademisierung der Berufe der Ergotherapie, der Logopädie und der Physiotherapie vereinbart wird. Die Berufsverbände, die Hochschulverbände und die Länder müssen an der Erstellung dieses Fahrplans beteiligt werden. Ziel muss es sein, dass die regulären Studiengänge zu einem festgelegten Zeitpunkt starten können. Man könnte auf den Modellstudiengängen aufbauen und die dort gewonnenen Erkenntnisse nutzen. Wichtig ist, dass die Schulen in der Übergangsphase einbezogen werden. Dozent*innen und Lehrer*innen sollten weiterqualifiziert werden. Um parallel dazu Nachwuchs zu fördern, braucht es berufspädagogische Studiengänge. Durch Anpassungsweiterbildungen muss die Gleichstellung akademischer und nicht-akademischer Therapeut*innen ermöglicht werden, damit es künftig nicht zwei Klassen von Heilmittelerbringer*innen mit sehr unterschiedlichen Qualifikationsniveaus gibt.

 

 

Die wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Pandemie wirken sich auch auf die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus. Die GKV finanziert sich überwiegend durch Beiträge und einen jährlichen Bundeszuschuss. Wie möchten Sie dafür sorgen, dass hier auch in den kommenden Jahren verlässliche Zahlungsgrößen und vor allem Kontinuität garantiert werden können?

 

 

Maria Klein-Schmeink: Wir Grünen machen uns für eine nachhaltige und gerechte Finanzierung der Kosten für Gesundheit und Pflege stark. Zum einen möchten wir, dass alle gesamtgesellschaftlichen Aufgaben über regelhafte und dynamisierte Steuerzuschüsse finanziert werden. Grundlegend brauchen wir die Einbeziehung aller in die solidarische Finanzierung entlang der Regeln für die gesetzliche Krankenversicherung, also über einkommensbezogene Beiträge. Weltweit fast einzigartig sind in Deutschland zehn Prozent der Bevölkerung – also die Gutverdienenden, die Selbstständigen, die Beamten und die Abgeordneten – nicht regelhaft in die Solidarität einbezogen. Das wollen wir mit der Bürgerversicherung ändern. Im ersten Schritt sollen die Privatversicherten, wie alle gesetzlich Versicherten, einkommensbezogene Beiträge in den Gesundheitsfonds abführen. Sie erhalten dann einen ihrem Gesundheitsrisiko entsprechenden Zuschuss zurück. Damit können sie ihre PKV-Prämie bezahlen. Menschen mit höherem Gesundheitsrisiko und mit Kindern werden profitieren, gutverdienende, jüngere Privatversicherte werden mehr als heute zahlen müssen. Das stärkt die Solidarität und die Einnahmebasis des Gesundheitsfonds.

 

 

Nicht zuletzt die ungewisse Situation nach dem ersten Corona- Lockdown im Frühjahr 2020 hat verdeutlicht, dass das Unternehmerrisiko ein nicht zu unterschätzender Faktor für selbstständige Physiotherapeuten ist. Praxisinhaber müssen die Möglichkeit haben, für das Alter vorzusorgen, ohne dass dieses Vermögen zum Beispiel während Krisenzeiten oder im Krankheitsfall zum Ausgleich von Erwerbsausfall herangezogen werden muss. Dennoch gibt es einzelne politische Bestrebungen, die dieses sogenannte „Schonvermögen“ Selbstständiger angreifen möchten. Wie stehen Sie dazu?

 

 

Maria Klein-Schmeink: Die Altersvorsorge Selbstständiger und die Aufwendungen für Erwerbsausfall müssen zu den Betriebskosten gerechnet werden und dürfen nicht angegriffen werden. In der Pandemie wäre es angemessen gewesen, Heilmittelerbringer*innen genauso unter den Rettungsschirm zu stellen wie ärztliche Praxen.

 

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