GKV-Spitzenverband: Fadenscheinige Argumente gegen Direktzugang
Kürzlich veröffentlichte der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) in der Juni-Ausgabe seines E-Magazins „90 Prozent“ einen Artikel über die den Direktzugang in der Heilmittelversorgung (https://www.gkv-90prozent.de/ausgabe/33/meldungen/33_direktzugang_heilmittel/33_direktzugang_heilmittel.html). Aus Sicht des IFK beinhaltet der Artikel bedenkliche Aussagen, die daran zweifeln lassen, dass sich die gesetzlichen Krankenkassen ihres Versorgungsauftrags bewusst sind.
Ausbildungs- und Prüfungsverordnung unter Beschuss
Im Wesentlichen stützen sich die Aussagen des GKV-Spitzenverbands auf die aktuelle Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (PhysTh-APrV) von 1994. Nicht in Betracht gezogen wird, dass das Bundesgesundheitsministerium im Rahmen der Reform des Berufsgesetzes für Physiotherapeuten auch diese Verordnung aktuell überarbeitet. Vermeintliche Mängel, die aus der aktuellen Verordnung resultieren, werden demnach in Kürze vermutlich nicht mehr Bestand haben.
Die GKV behauptet beispielsweise, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung wesentliche Kompetenzen, die Physiotherapeuten für die Behandlung im Direktzugang benötigen, nicht beinhalte. So mangele „es vor allem an spezifischen Inhalten zur eigenständigen Diagnosestellung und Differentialdiagnostik sowie zur evidenzbasierten Problemlösung und Entscheidungsfindung“. Fakt ist, physiotherapeutische Befund- und Untersuchungstechniken sind schon jetzt in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (Anlage 1) als Unterrichtsinhalte aufgeführt. Mit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2009 wurde zudem höchstrichterlich festgestellt, dass es lediglich einer geringfügigen Nachqualifizierung bedarf, um die Voraussetzung für den Direktzugang im Selbstzahlerbereich in Deutschland zu erfüllen. Diese lassen sich in 60 Unterrichteinheiten (UE) – aufgeteilt auf 50 UE für Differenzialdiagnostik sowie 10 UE Recht – lernen.
Der IFK setzt sich aktuell gemeinsam mit den anderen maßgeblichen Physiotherapieverbänden dafür ein, dass das neue Berufsgesetz diese 60 Unterrichtseinheiten beinhaltet. Für Bestandstherapeuten gilt es bei der Einführung eines Direktzugangs Regelungen abzustimmen, welche Qualifikationen, zum Beispiel zur Erkennung von Gefahren (Screening), nachzuweisen sind und wie diese ggfls. mit zusätzlichen Fortbildungen erlangt werden können. Verantwortungsbewusste Physiotherapeuten tun dies bereits heute in ihrer Behandlung. Bekommt ein Patient mit Lendenwirbelsäulensyndrom beispielsweise Sensibilitätsstörungen, schickt der Therapeut ihn zu Abklärung zurück zum Arzt.
Keine Abwertung der fachschulisch ausgebildeten Physiotherapeuten notwendig
Im weiteren Verlauf seiner Meldung knüpft der GKV-SV den möglichen Direktzugang an eine hochschulische Ausbildung für Physiotherapeuten, da dies in anderen Ländern Standard sei. Anschließend wird eine Entwertung der fachschulischen Ausbildung skandiert. Jedoch ist die Physiotherapieausbildung in Deutschland aufgrund historischer Gegebenheiten anders strukturiert als im internationalen Vergleich. Dieser Unterschied darf nicht automatisch mit einer Bewertung der Fähigkeiten einhergehen. Für den Direktzugang ist nicht ein Hochschulabschluss wichtig, sondern vielmehr der Nachweis bestimmter Kompetenzen (Screening, eigene Grenzen erkennen, interprofessionelle Kommunikation). Hier muss eine Nachqualifizierung für fachschulisch ausgebildete Physiotherapeuten möglich gemacht werden. Inhalte und Umfang dieser gilt es, gemeinsam zu definieren.
Zukunftsfähige Versorgungsformen unerlässlich
Wiederholt merkt der GKV-SV in seinem Artikel an, dass das aktuelle Berufsgesetz sowie die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten nicht die Voraussetzung für einen Direktzugang in der Physiotherapie bieten. Dass die konkreten Voraussetzungen, die ein Therapeut für die Behandlung im Direktzugang benötigt, jedoch noch gar nicht gesetzlich festgelegt wurden, lässt der GKV-SV bei seinen Schlussfolgerungen außer Acht. In einem umfangreichen Prozess werden außerdem das Berufsgesetz und die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung aktuell auf den Prüfstand gestellt, überarbeitet und modernisiert. In diesem Zug könnten auch die Weichen – und die Bedingungen – für die Patientenversorgung im Direktzugang gestellt werden.
Es scheint, als sperre sich der GKV-SV gegen solcherlei Veränderungen und lehne die Einführung neuer Versorgungsformen im Vorhinein ab. Angesichts der anstehenden Herausforderungen an das Gesundheitssystem in Form von steigenden Patientenzahlen aufgrund des demografischen Wandels, ist die Entwicklung neuer Versorgungsformen jedoch unerlässlich. Nur so kann der Versorgungsauftrag der Akteure im Gesundheitswesen gewährleistet werden. Der IFK ist der Meinung, dass auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen seinen Teil hierzu beitragen muss und sich nicht vor neuen Entwicklungen verschließen darf.
Verantwortungsvolle Patientenversorgung braucht jetzt Weichenstellung
„Wir bringen ein Modellprojekt zum Direktzugang für therapeutische Berufe auf den Weg“, erklärte die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag im Herbst 2021. Denn bevor das Thema Direktzugang im Rahmen einer Regelversorgung diskutiert werden kann, bedarf es konkreter Forschungsergebnisse, die die Basis für weitere Diskussionen im Kontext des deutschen Gesundheitssystems bilden können: Wie ist die Behandlungsqualität? Wie wird Patientensicherheit garantiert? Wie ist der prospektive Behandlungserfolg? Welche wirtschaftlichen Effekte treten ein? Wie ist das Inanspruchnahmeverhalten von Patienten? Dies sind nur einige der Fragen, die in einem Modellvorhaben zum Direktzugang untersucht werden müssen, das der IFK als maßgeblicher Verband in der Physiotherapie gern unterstützt.
Eine Voraussetzung für ein solches Modellvorhaben ist jedoch eine neu zu schaffende gesetzliche Grundlage, die mit dem Versorgungsgesetz II bereits angekündigt wurde. Auf Basis der Ergebnisse eines Modellvorhabens wäre zum ersten Mal eine wirkliche Diskussion über den Direktzugang im deutschen Gesundheitssystem möglich. Internationale Studien zeigten bereits, dass der Direktzugang sowohl die Qualität als auch die Wirtschaftlichkeit der Versorgung verbessert. Nun ist es an der Zeit, dies in einem Modellvorhaben zu verifizieren.