Therapieplanung in der Blankoverordnung: Evidenzbasiertes Arbeiten mithilfe von Leitlinien und Studien

Stellt der Arzt eine Blankoverordnung aus, kann der Physiotherapeut eigenständig die Art des Heilmittels, die Anzahl der Behandlungseinheiten sowie die Frequenz der Therapie bestimmen. Dadurch erhält der Physiotherapeut mehr Autonomie, aber auch Verantwortung in der Therapiegestaltung und sollte einmal mehr seine Entscheidungen evidenzbasiert treffen. Aktuell können Blankoverordnungen zu Diagnosen im Bereich des Schultergelenks ausgestellt werden. Die entsprechenden Diagnosen (ICD-10-Codes) sind vertraglich mit den gesetzlichen Krankenkassen vereinbart. Dabei handelt es sich um zwei Gruppen:

  1. Arthrosen, Weichteilläsionen, Knorpelschäden u. a. (z. B. M 19.01 Primäre Arthrose sonstiger Gelenke: Schulterregion)
  2. Frakturen konservativ und operativ versorgt (z. B. S42.0- Fraktur der Klavikula).

Vor Behandlungsbeginn muss bei einer Blankoverordnung zwingend eine physiotherapeutische Diagnostik durchgeführt werden. Dabei werden u. a. patientenbezogene Unterlagen bewertet, eine physiotherapeutische Anamnese sowie eine physiotherapeutische Inspektion und Palpation durchgeführt, um letztendlich eine physiotherapeutische Diagnose (Funktionsdiagnose) zu erstellen. Auf Grundlage der physiotherapeutischen Diagnostik legt der Therapeut die Therapieziele fest und plant seine Behandlung. Die Therapieplanung basiert auf einer prognostischen Einschätzung des Therapeuten. Er plant entsprechend der Therapieziele, welche Art des Heilmittels Anwendung finden soll, die Anzahl der Behandlungseinheiten sowie die Frequenz der Therapie. Doch: Wodurch stelle ich als Therapeut sicher, dass mein Therapieplan aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht? Wodurch lässt sich die Wahl meiner Methode begründen? Gibt es Alternativen zu gewählten Behandlungsansätzen, wenn bisherige Therapieansätze nicht zum gewünschten Erfolg führen?

Für die Beantwortung dieser Fragen des physiotherapeutischen Praxisalltags können verschiedene Quellen herangezogen werden. Am zweckdienlichsten sind dabei wissenschaftliche Arbeiten in Form von Leitlinien oder Studien.

Wissenschaftliche Datenbanken/Arbeiten

Das wissenschaftliche Arbeiten zielt darauf ab, durch Forschung neue Erkenntnisse auf einem bestimmten Fachgebiet zu gewinnen. Dies dient als Grundlage für praktische Optimierungsansätze und, um weitere Assessment- und Behandlungsverfahren anzupassen oder neu zu entwickeln.

Nicht nur im Rahmen der Behandlung mit einer Blankoverordnung, sondern auch allgemein sollten für eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Versorgungsqualität wissenschaftliche Erkenntnisse ihren Weg in die physiotherapeutische Praxis finden. Zum einen geschieht dies in der Lehre von physiotherapeutischen Inhalten durch Ausbildung, Studium sowie Fort- und Weiterbildungen. Zum anderen können Therapeuten auch selbst auf Texte zugreifen, die über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse informieren.

Leitlinien

Die wissenschaftlichen Leitlinien verstehen sich als Sammlung evidenzbasierter Handlungsempfehlungen für die Behandlungsmethoden bestimmter Krankheitsbilder (nähere Informationen s. Artikel S. 20/21 der physiotherapie 3/2024). Das Kernziel von Leitlinien stellen die Handlungsempfehlungen dar. Anders als manch andere empirisch aufbereitete Informationsquelle, formulieren Leitlinien nicht nur klare Ergebnisse, sondern legen ihren Schwerpunkt auf die praxisfreundliche Umsetzung und Anwendbarkeit. Gleichwohl handelt es sich ausdrücklich um Empfehlungen, die keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen, sondern dem Therapeuten eine Entscheidungsstütze bei der Behandlung seines Patienten bieten sollen.

Die relevanten Studien für eine Leitlinie werden nach vorgegebenen Qualitätskriterien bewertet. Die Qualität der Evidenz wird anhand eines Klassifikationsschemas angegeben. Dabei handelt es sich um eine fünfstufige Klassifizierung, wobei Stufe eins die höchst Evidenz aufweist und Stufe fünf die geringste Evidenz.

 

Die identifizierte Evidenz wird herangezogen, um Empfehlungen für die jeweilige Leitlinie zu formulieren. Zudem beruht die Formulierung der Empfehlungen auf einer Abwägung von Nutzen und Schaden. Ebenfalls werden Ansichten und Präferenzen der betroffenen Patienten sowie der klinischen Expertise der Leitliniengruppe herangezogen. Dabei werden auch subjektive Wertungen einbezogen. Eine starke Empfehlung wird dann angegeben, wenn ein sicherer Nutzen und die breite Anwendbarkeit vorliegen.

Für die Stärke einer Empfehlung stimmen Wortwahl und der angegebene Empfehlungsgrad überein, z. B. „wir empfehlen“ oder „soll“ für eine starke Empfehlung und „wir schlagen vor“ oder „sollte“ für eine abgeschwächte Empfehlung. Die Empfehlungen geben die Einschätzung der Leitliniengruppe wieder und werden mit Hilfe von Schemata (s. Abbildung 1) angegeben. Neben der Tabelle werden Hintergrundtexte verfasst, in denen die Ergebnisse der kritischen Bewertung beschrieben werden.

Wie finde ich relevante Leitlinien?

Über die Leitliniensuche der AWMF lassen sich Leitlinien ausfindig machen (https://register.awmf.org/de/suche). Es gibt jedoch nicht zu jedem Krankheits-/Beschwerdebild eine Leitlinie. Relevant für die derzeitige Behandlung mit einer Blankoverordnung wäre jedoch u. a. die Leitlinie S2e-Subacromiales Impingement, an der auch der IFK mitgearbeitet hat (https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/187-060 ).
 

Abbildung 2: Darstellung Leitlinie S2e-Subacromiales Impingement im AWMF-Register
Quelle: https://www.awmf.org/regelwerk/formulierung-und-graduierung-von-empfehlungen

Welche Erkenntnisse sind für meine physiotherapeutische Arbeit hilfreich?

In der Leitlinie Subacromilaes Impingement werden beispielweise Empfehlungen zu nicht operativen Therapiemethoden gegeben (s. Kapitel 8 der Leitlinie), u. a. zu Manueller Therapie und medizinischer Trainingstherapie, aber auch zu ergänzenden Maßnahmen wie Elektrotherapie und Wärmetherapie/Ultraschall. Die Empfehlungen werden dabei wie folgt dargestellt:  

 

Abbildung 3: Auszug Empfehlungen der Leitlinie S2e-Subacromiales Impingement

Bei der Formulierung „sollten manuelle Therapie und/oder Trainingstherapie“ handelt es sich um eine abgeschwächte Empfehlung (B⇑).  Der Evidenzgrad liegt bei zwei von fünf. In den Klammern werden die dazugehörigen Studien angegeben, die in der Literaturliste der Leitlinie zu finden sind. Die Leitliniengruppe war sich bei der Formulierung des Empfehlungsgrades in der S2e Leitlinie Subacromiales Impingement einig (100 Prozent Zustimmung, starker Konsens). Im dazugehörigen Hintergrundtext wird auf die Ergebnisse der herangezogenen Studien hingewiesen.

In den Studien, die für Leitlinien herangezogen werden, um Empfehlungen in der Leitliniengruppe zu konsentieren, gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit von bestimmten Behandlungsmöglichkeiten in der Physiotherapie. Beispielsweise in der Leitlinie Subacromiales Impingement werden für den Bereich Physiotherapie Empfehlungen zur Trainingstherapie oder Manuellen Therapie im Allgemeinen abgegeben. Elemente der Trainingstherapie sind jedoch in verschiedenen Heilmitteln zu finden, wie beispielsweise in der allgemeinen Krankengymnastik (KG) oder in der KG-Gruppe sowie in der gerätegestützten Krankengymnastik, sodass es hier bei der Auswahl des Heilmittels im Rahmen der Blankoverordnung kein Richtig oder Falsch gibt. Zudem lässt sich aus den Leitlinienergebnissen nicht zwangsläufig eine direkte Schlussfolgerung über bestimmte Behandlungsmengen und -frequenzen, Trainingsintensitäten oder Techniken (in der MT) für den jeweiligen Patienten ableiten. Das liegt zum einen daran, dass es sich nicht um eine rein physiotherapeutische Leitlinie handelt, denn die Leitliniengruppe setzt sich aus mehreren Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. Daher werden auch Empfehlungen zu anderen Therapiemethoden (Ergotherapie), bildgebenden Verfahren, operativen Verfahren oder medikamentösen Verfahren etc. abgegeben. Zum anderen sind die (internationalen) Studien sehr heterogen aufgebaut und die Vorgaben und Einteilungen der Heilmittelrichtlinie und des Heilmittelkatalogs nur für Deutschland zutreffend.

Ein Blick in Leitlinien und Studien kann helfen, die Therapieplanung zu unterstützen. Da es aber nicht für jede Erkrankung oder jede Technik Leitlinien und Studien gibt, sind Berufserfahrung sowie das Wissen aus Studium, Ausbildung und Fortbildung für die Therapieplanung und -durchführung ebenfalls wichtig.

Jede Leitlinie hat eine bestimmte Gültigkeit. Eine Überarbeitung erfolgt in der Regel nach einigen Jahren oder bei außerordentlichen Neuerkenntnissen, die keinen Aufschub dulden. Dabei werden durch die Leitliniengruppe neue Studien gesichtet und die Ergebnisse genutzt, um Handlungsempfehlungen anzupassen oder auch neue Handlungsempfehlungen abzugeben.

Wo finde ich weitere Studienergebnisse?

Neben den Behandlungsempfehlungen, die in Leitlinien veröffentlicht werden, kommt es zu Veröffentlichungen von Studienergebnissen in entsprechenden Berichten z. B. in (Fach-)Zeitschriften. Darüber hinaus gibt es spezielle Datenbanken, die sämtliche wissenschaftliche Schriften umfassen und nach spezifischen Themen durchsucht werden können:

  • PEDro ist eine gemeinnützige Organisation. Sie wurde 1999 von einer Gruppe klinisch und akademisch arbeitender Physiotherapeuten gegründet und ist im Institute for Musculoskeletal Health an der University of Sydney und dem Sydney Local Health District ansässig.
  • CINAHL ist eine bibliografische Datenbank des US-amerikanischen Datenbankanbieters EBSCO Publishing. Sie umfasst überwiegend englischsprachige Fachliteratur.
  • Cochrane ist ein internationales Netzwerk mit Sitz im Vereinigten Königreich und eine eingetragene gemeinnützige Organisation. Cochrane richtet sich an alle, die daran interessiert sind, qualitativ hochwertige Informationen zu nutzen, um gesundheitliche Entscheidungen zu treffen. Als nationales Zentrum hat Cochrane Deutschland seit 1999 vor allem die Aufgabe, die in den Cochrane Reviews zusammengefasste Evidenz in Deutschland allgemein zugänglich zu machen und sich für ihre Nutzung einzusetzen.
  • PubMed ist eine kostenlose Ressource für die Suche und den Abruf von biomedizinischer und biowissenschaftlicher Literatur mit dem Ziel, die Gesundheit zu verbessern. Die Datenbank enthält mehr als 34 Millionen Zitate und Zusammenfassungen von biomedizinischer Literatur.
  • Elsevier ist ein internationales Multimedia-Verlagsunternehmen mit über 20.000 Produkten in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Gesundheitswesen. Der Name Elsevier stammt von dem Originalnamen House of Elzevir, einem niederländischen Familienverlag, der 1580 gegründet wurde.

Wissenschaftliche Arbeiten können in empirische Studien und Literaturarbeiten unterschieden werden. Dies sind zwei verschiedene Arten von wissenschaftlichen Arbeiten mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Zielen. Empirische Studien basieren auf der Sammlung und Analyse von Daten aus Beobachtungen oder Experimenten. Sie zielen darauf ab, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Hypothesen zu überprüfen. Diese Studien sind in der Regel quantitativ oder qualitativ ausgerichtet und können verschiedene Methoden wie Umfragen, Experimente oder Fallstudien umfassen. Literaturarbeiten hingegen beziehen sich auf die Zusammenfassung, Analyse und Interpretation bereits vorhandener Literatur und Forschungsergebnisse zu einem bestimmten Thema. Sie dienen dazu, den aktuellen Stand des Wissens zu einem Thema darzustellen, verschiedene Perspektiven zu beleuchten, Forschungslücken aufzuzeigen oder neue Zusammenhänge dazustellen. Literaturarbeiten können z. B. systematische Literaturreviews oder Metaanalysen umfassen.
In wissenschaftlichen Arbeiten werden beispielsweise verschiedene Behandlungsmethoden in der Physiotherapie bei einem bestimmten Krankheitsbild miteinander verglichen, z. B. aktive gegenüber passiven Maßnahmen, und die Ergebnisse ausgewertet. Ebenfalls können konservative (Physiotherapie) mit operativen Methoden durch Studien verglichen werden.

Fazit

Die Blankoverordnung ist eine neue Versorgungsform, bei der der Therapeut eigenständig die Therapie plant. Da es allgemein keine Blaupause für die Behandlungsplanung von Erkrankungen gibt, ist es wichtig die Therapieplanung nicht „aus dem Bauch heraus“ zu entscheiden. Die oben genannten Vorschläge können helfen, neben der therapeutischen Erfahrung, die ebenfalls in die Behandlungsplanung und -umsetzung einfließt, Therapieentscheidungen zu treffen und Therapieoptionen abzuwägen.

 

Den Artikel schrieb Johanna Pleus, wissenschaftliche Mitarbeiterin des IFK

 

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